Es war einmal ein winziges Dörflein am Rande der großen Wälder.
Mitten in der baumbedeckten Natur reckte sich ein Berg bis hoch über die
Wolken hinauf. Noch nie hatte ein Mensch diesen Berg erklommen. Überhaupt
ließen sich in dieser Gegend selten fremde Leute blicken. Die nächsten
bewohnten Länder lagen alle in weiter, weiter Ferne - viele Tagesreisen von
hier. In diesem Teil der Welt gab es ein großes Rätsel, das bisher
noch niemand lösen konnte: Jedes Jahr mitten im Sommer erschall an einem
Tag zur Mittagszeit ein lautes Glockengeläut, obwohl nirgends weit und
breit ein Glockenturm zu finden war.
In dem Dorf wohnten nie mehr als dreißig bis vierzig Männer,
Frauen und Kinder. Zur Zeit, als diese Geschichte sich ereignete, waren es
genaugenommen zweiunddreißig an der Zahl. Unter ihnen lebte ein ganz
riesenhafter Kerl, der alle anderen um mindestens zwei Köpfe überragte,
und ein recht winzig geratener Mann, zu dem bereits die älteren Kinder
hinabschauen konnten.
Der riesige Mann war nicht besonders klug, dafür aber sehr stark, und
er war stolz darauf, daß niemand auch nur annähernd seine Länge
erreichte. Der winzige Mann dagegen gehörte nicht zu den Dümmsten,
jedoch hatte er keine Kraft. In seiner Hütte stand der Tisch ganz dicht bei
seiner Feuerstelle, weil ihm schon sein kleiner, gefüllter Suppentiegel
viel zu schwer erschien, als daß er ihn durch den ganze Raum hätte
tragen wollen.
Die beiden Männer, der Riesige und der Winzige, konnten sich nicht
sonderlich gut leiden. Sie hatten oft Streit miteinander. Da der Kleine besser
schimpfen konnte, endete ein Streit oft damit, daß der Große dafür
dem Kleinen einen Schubs verpaßte, so daß dieser regelmäßig
im Staub der einzigen Straße im Dorf lag, und sich furchtbar ärgerte,
während der Riese lachend von dannen zog. Manchmal hob der Große den
Winzigen auch einfach mit einer Hand in die Höhe und setzte ihn auf den nächsten
Baum. Dann konnte der kleine Mann nur noch jammern und schreien, bis sich ein
anderer Dorfbewohner erbarmte und ihm eine Leiter brachte, damit der Kleine
herunterklettern konnte. In diesen Momenten lachten alle Einwohner des Dörfchens
über den Geschmähten. Alle verspotteten ihn, denn bei dem Streit
stellten sie sich auf die Seite des Riesen. Niemand wollte es mit ihm verderben,
weil er so kräftig war.
An einem solchen Tag, als der Kleine wieder einmal am Boden der Straße
lag, und alle um ihn herum ihn verspotteten, ärgerte er sich ganz
besonders. Denn heute war sein Geburtstag. Deshalb trug er seit dem Morgen sein
bestes weißes Hemd - mit feinen Rüschen besetzt. In der Nacht hatte
es geregnet. Die Straße war übersäht mit Pfützen und
Schlamm. Und nach dem heutigen Streit saß er nun inmitten der größten
Pfütze weit und breit, und sein schönes Hemd war von oben bis unten
mit Dreck beschmiert.
"Seht nur," rief einer der Umstehenden, "er sühlt sich
im Schlamm wie ein Schwein! Ha Ha Ha ..." pruschtete er weiter heraus.
"Doch nicht wie ein ausgewachsenes Schwein!" fügte eine Frau
hinzu. "Der ist doch noch viel kleiner als ein Ferkel. Schaut doch nur!"
Und die Dorfbewohner hielten sich die Bäuche vor Lachen.
"Niemand mag mich," dachte er bei sich. "Anstatt mir ein
Geburtstagslied zu singen, lachen sie mich alle aus."
Mühsam stand er auf und lief zu seinem Haus. Als er dabei in eine Kuhle
trat und stolperte, schwoll das Lachen nur noch stärker an.
"Nicht 'mal auf zwei Beinen kann er laufen. Ho ho ho," hörte
er hinter sich eine Stimme.
Endlich in seinem Haus angekommen, drückte der Mann die Tür mit
letzter Kraft ins Schloß und fing an, bitterlich zu weinen. Er setzte sich
auf den Stuhl am Tisch, begrub das Gesicht in den Händen und weinte und
weinte. Als er eine ganze Weile geweint hatte, so daß das Wasser der Tränen
bereits von der Platte des Tisches auf das Holz des Bodens tropfte, schlief der
kleine Mann über seinem Kummer ein.