Der kleine und der große Mann
Ein neues Märchen
- 2. von 12 Episoden -
von Manfred Franz (Texte)
und Beate Franz (Bilder)

Nach mehr als drei Stunden erwachte er aus seinem erschöpften Schlaf. Nun war er furchtbar durstig, weil er so viele Tränen verloren hatte. Der kleine Kupfertiegel war leer, und auch sonst befand sich kein Tropfen Wasser mehr im Haus, bis auf den See aus Tränen unter dem Tisch. Doch Tränenwasser ist salzig und vermag den Durst nicht zu löschen. Also machte der kleine Mann sich mit seinem Kesselchen auf den Weg zum Dorfbrunnen. Auch brauchte er sauberes Wasser, um sein Hemdchen zu waschen.

Der Brunnen in dem Dörfchen war ein besonders tiefer. Auf dem Steinrand des Brunnens stand ein stabiler Holzeimer, an dem ein besonders langes Seil befestigt war, um den Eimer über eine Winde bis tief hinunter zum Wasser zu lassen. Normalerweise bat der kleine Mann einen anderen Dorfbewohner um Hilfe, wenn er Wasser brauchte. Denn der volle Eimer hatte ein stattliches Gewicht, zumal wenn er an einem so langen Seil hing.

Die Straße war zur Mittagszeit jedoch wie leergefegt. Wer nicht gerade etwas Wichtiges zu tun hatte, hielt sich in seinem Haus auf und machte ein Nickerchen. Aber eigentlich war der kleine Mann ganz froh, daß ihm niemand von den Leuten begegnete, die ihn am Morgen noch ausgelacht hatten. Doch wie sollte er nun an sein Wasser kommen?

"Heute nehme ich meine ganze Kraft zusammen", sagte er zu sich. Diesmal wollte er es ganz alleine schaffen. Er wollte nicht immer wieder um Hilfe bitten bei den Leuten, die ihn sonst verspotteten. Also ließ er ganz langsam und bedächtig den Holzeimer Stück für Stück an dem langen Seil in das dunkle, schwarze Loch des Brunnens in die Tiefe gleiten. Mit jedem Stückchen wurde der Eimer schwerer, obwohl noch kein Wasser darin war. Endlich, das Seil war fast zuende, hörte der kleine Mann weit unten, wie der Eimer in das Brunnenwasser platschte.

"Das war der halbe Weg. Doch das schwerste Stück Arbeit kommt erst noch," dachte er. Am liebsten hätte er sich jetzt in den Schatten des Kastanienbaums gesetzt, weil er sich von der bisherigen Anstrengung so geschwächt fühlte. Wenn er das getan hätte, dann wäre aber das letzte Ende das Seils in den Brunnen gefallen, denn es war viel zu kurz, um es noch mit einem Knoten irgendwo festzubinden.

Also hielt der kleine Mann nur einen kurzen Augenblick inne, bis sein Herz nicht mehr vor Aufregung bebte. In der Zwischenzeit lief der Eimer mit Wasser randvoll. Der Winzige packte das Seil mit seinen kurzen Fingern so fest er konnte und zog mit aller Kraft. Der Eimer löste sich von der Wasseroberfläche und wanderte Stückchen für Stückchen nach oben. Der kleine Mann schwitzte vor Anstrengung. Als ihn beinahe die Kräfte verließen, kletterte er auf den Brunnenrand, um dem Eimer ein bißchen näher zu kommen. Er zog und zog weiter, doch der Wassereimer rührte sich kaum noch vom Fleck. Schließlich konnte der kleine Mann den Eimer nur noch festhalten, damit das Gefäß nicht wieder in die Tiefe glitt.

"Ohne Hilfe schaffe ich es nicht." Diese Einsicht kam jedoch zu spät. Der Kleine konnte den Eimer nicht mehr halten. Das Holzgefäß sauste wieder in die Tiefe, hinterher zog es das Seil und schließlich fiel der kleine Mann gleich hinterher in die dunkle Finsternis des Brunnens. Mit einem markerschütternden Hilfeschrei purzelte er und purzelte. Noch nie in seinem Leben hatte er so laut geschrien, und der Schrei hallte im Brunnen und wurde so noch viel lauter. Der Schrei fuhr durch die Straße, erklang in allen Häusern des Dorfes, zog durch die großen Wälder und wanderte bis hinauf zur Bergspitze, weit über den Wolken.

vorige Episode präsentiert von NET-CLIP nächste Episode

Jetzt auch als Buch

(Neuauflage 2013 mit neuer
deutsche Rechtschreibung)
Der kleine und der große Mann
mehr Infos

©Copyright 1996,2013 by Manfred und Beate Franz
E-Mail: verlag@net-clip.de, Postanschrift: Manfred Franz, Net-Clip GmbH, Werderstr. 30, 12103 Berlin