Selbst der große Mann, der gerade auf dem Bauch in seinem riesigen
Bett lag, fuhr erschrocken zusammen.
"Was war das?"
Niemals zuvor hatte er einen so schrecklichen Schrei gehört. Er steckte
schnell die klobigen Füße in seine Latschen und rannte vor die Tür.
Auch die anderen Dorfbewohner waren in Windeseile aus ihren Häusern gestürmt.
Nun blickten sie sich verwirrt um. Niemand wußte, wer da so fürchterlich
geschrien hatte, und keiner hatte auch nur die leiseste Idee, woher der Schrei
gekommen war.
"Was ist los?" fragte ein Mann mit weißer Schlafmütze
auf dem Kopf.
"Noch nie habe ich so etwas Schlimmes gehört. Schrecklich!"
brachte ein Anderer hervor.
"Ich habe Angst," flüsterte ein kleiner Junge und hielt sich
an der Schürze seiner Mutter fest.
Da erklang ein lautes Plumpsen aus dem Dorfbrunnen und anschließend
ein erbärmliches Gejammer. Der kleine Mann war unten im Wasser angekommen
und paddelte um sein Leben.
"Zum Brunnen!" rief die Frau mit dem kleinen Jungen.
Der große Mann war der erste, dessen Gesicht der kleine Mann weit über
sich im hellen Kreis der Brunnenöffnung sah.
"Hilfe, großer Mann, hilf mir heraus," rief der Kleine nach
oben, wobei er weiter eifrig mit Armen und Beinen strampelte, um sich über
Wasser zu halten. Während der Große bereits versuchte, mit einem
seiner langen Arme nach dem Kleinen zu angeln, sammelten sich auch die anderen
Leute um den Brunnen.
"Das hat keinen Zweck!" rief eine hochgewachsene Frau. "Da müßten
Deine Arme schon hundertmal länger sein. Wir brauchen ein Seil!" Doch
im ganzen Dorf war kein einziges aufzutreiben. Vor vielen, vielen Jahren hatten
die Dorfbewohner alle ihre kurzen Seile bei einem Fremden gegen ein ganz langes
Seil eingetauscht , das gerade mit dem winzigen Mann in die Tiefe des Brunnens
gesaust war.
"Die Leiter, die Leiter," schrie der kleine Mann mit krächzender
Stimme.
"Die ist doch viel zu kurz," antwortete der Große.
"Bitte, wirf mir die Leiter herunter, sonst ertrinke ich."
Die Dorfbewohner hatten verstanden, worum es ging; der kleine Mann konnte
nicht besonders gut schwimmen. Schon im nächsten Moment reichten sie dem
Großen die Leiter, die sie sonst dazu benutzten, um den Kleinen vom Baum
zu holen, wenn er wieder einmal nach einem Streit dort oben saß. Doch an
einen solche Auseinandersetzung dachte auch der große Mann jetzt nicht.
"Zieh deinen Kopf ein," erklang die Stimme des Kräftigen,
bevor er die Leiter aus seiner Hand in die Tiefe gleiten ließ. Der Kleine
versuchte, sich ganz nah an der kalten, glitschigen Steinwand zu halten, während
die Leiter dicht vor ihm in das kühle Wasser des Brunnens eintauchte. Das
Wasser spritzte dem Kleinen in die Augen, so daß er sie ganz fest
zukneifen mußte. Als er sie wieder öffnete, hatte das untere Ende der
Leiter bereits den Grund erreicht und gerade zwei Sprossen ragten noch aus dem
Wasser heraus. Die Leiter lehnte an der gegenüberliegenden Seite des
Brunnens. Eilig ruderte der Kleine mit allerletzter Kraftanstrengung hinüber.
Er erklomm die Stufen und setzte sich auf die oberste, während er seine Füße
auf die zweite stellte, so daß er nicht mehr im Wasser paddeln mußte.
Vor dem Ertrinken war er nun gerettet, doch wie sollte er wieder aus dem Brunnen
herauskommem?
Verzweifelt und pitschnaß saß er nun fröstelnd auf der
Leiter, und winzige Tränen tropften aus seinen Augen in das Naß des
Brunnens und er jammerte: "Ohje, Ohje, Ohje ..."