Die Dorfbewohner waren ratlos. Sie überlegten, wie sie dem kleinen Mann
helfen konnten. Denn sie hatten Mitleid mit ihm, und sie machten sich jetzt große
Vorwürfe, weil sie immer so garstig zu ihm gewesen waren. Besonders traurig
war der große Mann. Denn in seiner rauhen Schale steckte ein weiches Herz.
Und wenn er es recht bedachte, mochte er den kleinen Mann sehr gut leiden, nur
hatte er es dem Winzigen nie richtig zeigen können. Er wußte nicht,
wie man so etwas machte. Raufen und balgen hatte er sehr früh gelernt, weil
er schon als Kind so groß und stark war - aber wie man jemandem zu
verstehen gibt, daß man ihn mag, davon hatte er keine Ahnung.
"Was können wir bloß tun?" fragte der Große.
Die Frau, die sich schon vorher zu Wort gemeldet hatte, sprach: "Im
Wald, da wohnt ein altes Weib. Man sagt, sie hat Wunderkräfte. Zu ihr
sollten wir gehen und sie um Rat fragen. Großer Mann, du hast die längsten
Beine, du kannst am Schnellsten laufen. Wir anderen bleiben hier, falls der
kleine Mann uns braucht. Er wird frieren, und wir müssen ihn mit Essen
versorgen. Lauf und spute dich."
Die anderen Dorfbewohner nickten und schauten den Großen
erwartungsvoll an, der mit weit aufgerissenen Augen dastand.
Der Riesige lief die Straße hinauf in die Richtung, die zu den Wäldern
führte. Er rannte, so schnell er konnte, denn er wollte dem Kleinen helfen.
Er wollte sein Freund werden. Das nahm er sich fest vor - falls der Kleine
gerettet werden konnte.
Eigentlich war es dem großen Mann im Wald immer ein wenig unheimlich.
Dort war es dunkel und viele fremde Geräusche waren zu hören, von
denen der Große nicht wußte, wer sie machte - und warum. Diesmal kümmerte
er sich aber nicht sonderlich darum. Er lief schnurstracks in den Wald hinein.
Erst standen die Bäume in gehörigem Abstand voneinander, aber mit
jedem Schritt wurde der Wald dichter. Nur einmal fuhr der große Mann
erschrocken zusammen und rief: "Wer da?"
Doch das laute Knacken, das er vernahm, kam von einem armdicken Ast, der am
Boden lag und der unter dem Gewicht des Riesen zerbrach. In einiger Entfernung
erkannte der Mann, daß die Bäume nicht mehr ganz so dicht beieinander
standen. Und nach wenigen, langen Schritten erreichte er eine Lichtung im Wald,
in dessen Mitte ein Holzhaus mit strohbedecktem Dach stand.
Der Mann hatte das Haus noch garnicht erreicht, da öffnete sich bereits
die Tür mit lautem Quitschen. Eine alte, kleine Frau mit gebeugtem Rücken
trat, auf ihren Stock gestützt, durch die Öffnung heraus ins Freie.
Sie mußte den Mann schon gehört haben. Irgendwie war sich der große
Mann nicht ganz sicher, ob er eine Hexe oder eine einfache Frau vor sich hatte,
die nur wegen ihres hohen Alters viele Dinge besser wußte, als andere
Menschen. Die Frau flößte ihm Respekt ein, so daß er sich plötzlich
nicht mehr so groß und stark fühlte.
"Guten Tag, liebe Frau, " sagte der Riesige artig.
"Du brauchst meine Hilfe," entgegnete ihm die Frau, ohne seinen
Gruß zu erwidern. "Ich habe den furchtbaren Schrei eines Mannes gehört,"
fuhr sie fort. "Berichte!"
Nachdem der große Mann wie ein kleiner Schuljunge, der seine
Hausaufgaben nicht gemacht hatte, die ganze Geschichte mit viel Gestammel erzählt
hatte, warf ihm die Alte nur ein kurzes "Warte!" entgegen, drehte sich
um und verschwand im Haus, während sich die Tür langsam wieder schloß.
Zu gerne hätte der Mann nun gewußt, was die Alte dort in ihrer Hütte
tat. Sein Herz klopfte wie wild, so daß er es bis zum Hals hinauf schlagen
hörte. Die Minuten verrannen für ihn wie eine halbe Ewigkeit. Endlich öffnete
sich die Tür aufs Neue. Ein kleines weißes Kätzchen huschte
durch den ersten Spalt ins Freie, dann erschien die Alte. Mit großen Augen
und geöffnetem Mund wartete der Große auf ihre Worte.
"Im finstersten Teil des Waldes gibt es eine kleine Wiese. Dort wachsen
Pflanzen, die es in keinem anderen Land der Welt gibt. Diese Pflanzen mußt
Du brechen und sie dem kleinen Mann bringen. Von jedem Blättchen, daß
er ißt, wird er ein kleines Stückchen an Länge gewinnen. Sammle
so viele Pflanzen, wie Du finden kannst, dann wird der Kleine so groß
werden, daß er aus dem Brunnen klettern kann," erklärte die Frau
und fügte hinzu: "Aber Du mußt Dich beeilen, denn wenn die Blüte
einer Pflanze sich öffnet, dann sind deren Blätter sofort giftig, und
der kleine Mann muß sterben. Nimm also nur die Pflänzchen mit
geschlossenen Blüten, dann wird alles gut. Spute Dich, es ist Blütezeit
und spätestens morgen Mittag werden alle Knospen aufgegangen sein. Die
ersten haben schon mit ihrer Blüte begonnen."
Der große Mann blickte der Alten immer noch staunend in ihr runzeliges
Gesicht, während ihm die Frau einen geflochtenen Körb in die Hand drückte.
"Worauf wartest Du," fragte sie. "Lauf! Das Kätzchen
wird Dir den Weg zeigen."