Der kleine und der große Mann
Ein neues Märchen
- 12. von 12 Episoden -
von Manfred Franz (Texte)
und Beate Franz (Bilder)

Nach wohlverdienter Ruhe, als wieder Kraft in seine Glieder eingekehrt war, steckte der Mann seine Beute unter sein Hemdchen, und machte sich auf den Rückweg. Er lief durch den Sturm den Hügel hinab, kletterte durch Wind und Wolken die Felswand hinunter, begrüßte stolz das Kätzchen, das noch immer im Busch saß und auf ihn wartete und gelangte mit seiner Begleiterin wieder in den Wald. Wie die alte Frau vorhergesagt hatte, war der Rückweg viel länger als der Hinweg. Erst hatte der Mann das nicht begreifen können, doch nun wußte er, was die Alte gemeint hatte. Die Beine waren dem Wanderer auf seinem Aufstieg im Wind viel kürzer geworden, so daß er jetzt zwei, drei oder gar vier Schritte machen mußte, wo vorher nur einer nötig gewesen war. Nochmals mußte er seine Hosen höherkrempeln. Trotz Allem gönnte sich der Mann nun keine Rast mehr, bis er wieder bei der Hütte angelangt war.

Die gute Frau schaute bereits aus dem geöffneten Fenster. Und kaum erblickte sie die beiden Rückkehrer, da kam sie auch schon aus ihrem Haus. In der Hand trug sie eine Kanne Milch, von der sie dem Kätzchen ein wenig in eine Schale goß, die vor der Tür stand. Das restliche Getränk reichte sie dem Mann mitsamt der Kanne.

"Nimm und trink! Du brauchst Stärkung."

Nachdem der Mann mit einem Zug die ganze Milch getrunken hatte, reichte er der Alten das Gefäß zurück, wischte sich mit dem Handrücken den feuchten Mund, und bedankte sich herzlich bei der Frau und seiner treuen Begleiterin.

"Ohne Euch hätte ich es nie geschafft. Aber jetzt muß ich gleich weiter." Dann rannte er wieder los.

Bevor der Mann das Dorf erreichte, zog er die gebrochene Pflanze aus seinem Hemd und schwenkte sie durch die Luft, damit die Dorfbewohner, die sich nun wieder am Brunnen versammelt hatten, schon von Weitem den Erfolg des Unternehmens sehen konnten. Als der Mann die Leute erreicht hatte, traten sie alle einen Schritt beiseite, damit der Kleine - der Mann war nun kaum noch größer als die Kinder, die gerade das Laufen erlernt hatten - bis zum Brunnen gelangen konnte.

Mit piepsiger Stimme rief er: "Kleiner Mann!" Dann sah er an sich selbst herunter und rief nun doch nur "Hallo!" hinab. Die Antwort aus dem Brunnen ließ nicht lange auf sich warten. Der Mann dort unten hatte die Nacht und den Tag also gut überstanden.

Als der Mann im Brunnen wieder Schatten über sich sah, fühlte er, daß seine Rettung gekommen war. Er fing die Pflanze, die ihm zugeworfen wurde mit beiden Händen auf und begann sofort, mit den Zähnen die einzelnen Blätter vom Stengel zu rupfen. Ungeduldig kaute er wild und heftig diese so wundersame Mahlzeit. Am liebsten hätte er alles gleich auf einmal hinunter geschluckt, doch er dachte sich, daß die Wirkung der Planze wohl am größten wäre, wenn er die Blätter ausgiebig kaute. Wieder hatte er den süßlichen Marzipangeschmack im Mund.

Ein wenig aufgeregt war er noch immer, und trotz seines Gefühls der bevorstehenden Rettung, konnte er es noch nicht wirklich glauben. Er schloß die Augen und wartete. Er wartete auf das Sausen, daß er schon früher vernommen hatte. Und er mußte nicht lange warten. Ein lautes Klingeln, ja ein Geläut, wie von Kirchturmglocken verspürte er in sich. Und auch alle Dorfbewohner hörten an diesem Tage das Glockengeläut, daß sonst vom Berg herunter kam, aus ihrem Dorfbrunnen. Es läutete und läutete. Alle hatten den Eindruck, als wollte es garnicht enden. Und jeder schloß die Augen und hoffte für den Mann im Brunnen, und dachte darüber nach, wie einer dem anderen helfen konnte. Wie schön es doch wäre, wenn sie alle miteinander gut Freund wären.

Langsam klang das Läuten der Glocken aus und einer nach dem öffnete wieder seine Augen. Als letzter hob der Mann im Brunnen seine Lider, und er war geblendet. So lange hatte er nun unten im dunklen Brunnen verbracht, daß sich seine Augen schon daran gewöhnt hatten. Nun war er endlich dem hellen Tageslicht wieder so nahe, daß er sich erst an den Glanz der in Sonne gehüllten Welt gewöhnen mußte. Der Mann hob den Arm und legte seine große Hand auf den Brunnenrand.

"Da, seht nur!" Als die Dorfbewohner die Finger erblickten, brachen sie in freudiges Jubelgeschrei aus. Während der Mann im Brunnen sich noch einmal zu dem kleinen blauen Fisch bückte, und sich von diesem verabschiedete, ließen die Leute oben den Retter hochleben. Sie hoben ihn hoch, warfen ihn in die Luft und riefen immer wieder "Bravo", "Hoch lebe der kleine Mann", "Hoch lebe der große Mann". Aber niemand wußte dabei so recht, welchem sie dabei den Namen "Großer Mann" und welchem sie die Bezeichnung "kleiner Mann" gaben.

Beim Bücken barst dem Mann im Brunnen nun endgültig der Gürtel, und er schlang sich als Ersatz das Brunnenseil um den Hosenbund und stellte den Eimer oben auf den Brunnenrand.

Ohne Schwierigkeiten kletterte nun der Gerettete aus der Öffnung des Brunnens. Kaum war er seinem Gefängnis entstiegen, so ging er auf jeden Mann, jede Frau und jedes Kind zu und drückte Allen nacheinander herzlich die Hand.

"Danke, danke, tausend Dank," sprach er dabei.

Als Letztes ging er mit ernstem Gesicht auf den ehemals großen Mann zu. Der frühere kleine Mann war jetzt mindesten drei- oder viermal größer als der Andere. Mit seinen riesigen Händen griff er, immernoch mit ernster Miene, sein Gegenüber und hob ihn auf den größten Baum, der gerade in der Nähe stand. Der Hochgehobene blickte ganz erschrocken und unglücklich drein. Gleich kam ihm sein Traum wieder ins Gedächtnis, den er nach seinem Sturz von der Felswand gehabt hatte. Doch im nächsten Augenblick schon reichte der Andere ihm wieder die Hand, nahm ihn auf den Arm und bekann herzhaft zu lachen. Nach kurzer Unsicherheit begann dann auch der Erschrockene zu lachen, und das Lachen breitete sich aus. Es zog durch das Dorf, über die Wälder, den Berg empor, durch die Wolken, bis hinauf zur Bergspitze. Auch die alte Frau im Wald, und ihr liebes, weißes Kätzchen vernahmen die große Freude und freuten sich mit den Glücklichen, und auch der kleine Fisch spürte das Glück, das in diesen Teil der Welt eingekehrt war.

Von jenem Tage an waren die beiden Männer die dicksten Freunde. Sie bauten sich zusammen ein Haus, wo sie gemeinsam weiterlebten. Keiner im Dorf redete sie noch mit "Großer" oder "Kleiner Mann" an. Denn jeder von ihnen hatte ja auch einen Namen, und die Größe eines Menschen zeigt sich nicht in dessen Körperlänge.

Alle Jahre wieder wurde in dem Dorf nun am Tage des Glöckengeläuts ein großes Fest gefeiert, bei dem alle Zwistigkeiten untereinander begraben wurden. Und noch etwas Wundersames geschah. Nach einem Jahr waren beide Männer in ihrem Wuchs gleichgroß, und am Tage des Glökenläutens im darauffolgenden Jahr hatte beide ihre ursprüngliche Körperlänge wiedererlangt ... Doch das tat ihrer Freundschaft keinen Abbruch mehr ...

Ende

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