Nach wohlverdienter Ruhe, als wieder Kraft in seine Glieder eingekehrt war,
steckte der Mann seine Beute unter sein Hemdchen, und machte sich auf den Rückweg.
Er lief durch den Sturm den Hügel hinab, kletterte durch Wind und Wolken
die Felswand hinunter, begrüßte stolz das Kätzchen, das noch
immer im Busch saß und auf ihn wartete und gelangte mit seiner Begleiterin
wieder in den Wald. Wie die alte Frau vorhergesagt hatte, war der Rückweg
viel länger als der Hinweg. Erst hatte der Mann das nicht begreifen können,
doch nun wußte er, was die Alte gemeint hatte. Die Beine waren dem
Wanderer auf seinem Aufstieg im Wind viel kürzer geworden, so daß er
jetzt zwei, drei oder gar vier Schritte machen mußte, wo vorher nur einer
nötig gewesen war. Nochmals mußte er seine Hosen höherkrempeln.
Trotz Allem gönnte sich der Mann nun keine Rast mehr, bis er wieder bei der
Hütte angelangt war.
Die gute Frau schaute bereits aus dem geöffneten Fenster. Und kaum
erblickte sie die beiden Rückkehrer, da kam sie auch schon aus ihrem Haus.
In der Hand trug sie eine Kanne Milch, von der sie dem Kätzchen ein wenig
in eine Schale goß, die vor der Tür stand. Das restliche Getränk
reichte sie dem Mann mitsamt der Kanne.
"Nimm und trink! Du brauchst Stärkung."
Nachdem der Mann mit einem Zug die ganze Milch getrunken hatte, reichte er
der Alten das Gefäß zurück, wischte sich mit dem Handrücken
den feuchten Mund, und bedankte sich herzlich bei der Frau und seiner treuen
Begleiterin.
"Ohne Euch hätte ich es nie geschafft. Aber jetzt muß ich
gleich weiter." Dann rannte er wieder los.
Bevor der Mann das Dorf erreichte, zog er die gebrochene Pflanze aus seinem
Hemd und schwenkte sie durch die Luft, damit die Dorfbewohner, die sich nun
wieder am Brunnen versammelt hatten, schon von Weitem den Erfolg des
Unternehmens sehen konnten. Als der Mann die Leute erreicht hatte, traten sie
alle einen Schritt beiseite, damit der Kleine - der Mann war nun kaum noch größer
als die Kinder, die gerade das Laufen erlernt hatten - bis zum Brunnen gelangen
konnte.
Mit piepsiger Stimme rief er: "Kleiner Mann!" Dann sah er an sich
selbst herunter und rief nun doch nur "Hallo!" hinab. Die Antwort aus
dem Brunnen ließ nicht lange auf sich warten. Der Mann dort unten hatte
die Nacht und den Tag also gut überstanden.
Als der Mann im Brunnen wieder Schatten über sich sah, fühlte er,
daß seine Rettung gekommen war. Er fing die Pflanze, die ihm zugeworfen
wurde mit beiden Händen auf und begann sofort, mit den Zähnen die
einzelnen Blätter vom Stengel zu rupfen. Ungeduldig kaute er wild und
heftig diese so wundersame Mahlzeit. Am liebsten hätte er alles gleich auf
einmal hinunter geschluckt, doch er dachte sich, daß die Wirkung der
Planze wohl am größten wäre, wenn er die Blätter ausgiebig
kaute. Wieder hatte er den süßlichen Marzipangeschmack im Mund.
Ein wenig aufgeregt war er noch immer, und trotz seines Gefühls der
bevorstehenden Rettung, konnte er es noch nicht wirklich glauben. Er schloß
die Augen und wartete. Er wartete auf das Sausen, daß er schon früher
vernommen hatte. Und er mußte nicht lange warten. Ein lautes Klingeln, ja
ein Geläut, wie von Kirchturmglocken verspürte er in sich. Und auch
alle Dorfbewohner hörten an diesem Tage das Glockengeläut, daß
sonst vom Berg herunter kam, aus ihrem Dorfbrunnen. Es läutete und läutete.
Alle hatten den Eindruck, als wollte es garnicht enden. Und jeder schloß
die Augen und hoffte für den Mann im Brunnen, und dachte darüber nach,
wie einer dem anderen helfen konnte. Wie schön es doch wäre, wenn sie
alle miteinander gut Freund wären.
Langsam klang das Läuten der Glocken aus und einer nach dem öffnete
wieder seine Augen. Als letzter hob der Mann im Brunnen seine Lider, und er war
geblendet. So lange hatte er nun unten im dunklen Brunnen verbracht, daß
sich seine Augen schon daran gewöhnt hatten. Nun war er endlich dem hellen
Tageslicht wieder so nahe, daß er sich erst an den Glanz der in Sonne gehüllten
Welt gewöhnen mußte. Der Mann hob den Arm und legte seine große
Hand auf den Brunnenrand.
"Da, seht nur!" Als die Dorfbewohner die Finger erblickten,
brachen sie in freudiges Jubelgeschrei aus. Während der Mann im Brunnen
sich noch einmal zu dem kleinen blauen Fisch bückte, und sich von diesem
verabschiedete, ließen die Leute oben den Retter hochleben. Sie hoben ihn
hoch, warfen ihn in die Luft und riefen immer wieder "Bravo", "Hoch
lebe der kleine Mann", "Hoch lebe der große Mann". Aber
niemand wußte dabei so recht, welchem sie dabei den Namen "Großer
Mann" und welchem sie die Bezeichnung "kleiner Mann" gaben.
Beim Bücken barst dem Mann im Brunnen nun endgültig der Gürtel,
und er schlang sich als Ersatz das Brunnenseil um den Hosenbund und stellte den
Eimer oben auf den Brunnenrand.
Ohne Schwierigkeiten kletterte nun der Gerettete aus der Öffnung des
Brunnens. Kaum war er seinem Gefängnis entstiegen, so ging er auf jeden
Mann, jede Frau und jedes Kind zu und drückte Allen nacheinander herzlich
die Hand.
"Danke, danke, tausend Dank," sprach er dabei.
Als Letztes ging er mit ernstem Gesicht auf den ehemals großen Mann
zu. Der frühere kleine Mann war jetzt mindesten drei- oder viermal größer
als der Andere. Mit seinen riesigen Händen griff er, immernoch mit ernster
Miene, sein Gegenüber und hob ihn auf den größten Baum, der
gerade in der Nähe stand. Der Hochgehobene blickte ganz erschrocken und
unglücklich drein. Gleich kam ihm sein Traum wieder ins Gedächtnis,
den er nach seinem Sturz von der Felswand gehabt hatte. Doch im nächsten
Augenblick schon reichte der Andere ihm wieder die Hand, nahm ihn auf den Arm
und bekann herzhaft zu lachen. Nach kurzer Unsicherheit begann dann auch der
Erschrockene zu lachen, und das Lachen breitete sich aus. Es zog durch das Dorf,
über die Wälder, den Berg empor, durch die Wolken, bis hinauf zur
Bergspitze. Auch die alte Frau im Wald, und ihr liebes, weißes Kätzchen
vernahmen die große Freude und freuten sich mit den Glücklichen, und
auch der kleine Fisch spürte das Glück, das in diesen Teil der Welt
eingekehrt war.
Von jenem Tage an waren die beiden Männer die dicksten Freunde. Sie
bauten sich zusammen ein Haus, wo sie gemeinsam weiterlebten. Keiner im Dorf
redete sie noch mit "Großer" oder "Kleiner Mann" an.
Denn jeder von ihnen hatte ja auch einen Namen, und die Größe eines
Menschen zeigt sich nicht in dessen Körperlänge.
Alle Jahre wieder wurde in dem Dorf nun am Tage des Glöckengeläuts
ein großes Fest gefeiert, bei dem alle Zwistigkeiten untereinander
begraben wurden. Und noch etwas Wundersames geschah. Nach einem Jahr waren beide
Männer in ihrem Wuchs gleichgroß, und am Tage des Glökenläutens
im darauffolgenden Jahr hatte beide ihre ursprüngliche Körperlänge
wiedererlangt ... Doch das tat ihrer Freundschaft keinen Abbruch mehr ...
Ende