Der kleine und der große Mann
Ein neues Märchen
- 7. von 12 Episoden -
von Manfred Franz (Texte)
und Beate Franz (Bilder)

Auf seinem Weg hinab fiel der Korb erst kerzengerade, auf halbem Weg begann er aber fürchterlich zu taumeln. Doch das konnte niemand in der Dunkelheit der Nacht sehen - auch der kleine Mann nicht, da der fallende Korb den Blick auf die Laternen versperrte. Glücklicherweise verlor der Behälter mit den kostbaren Blättern nicht gänzlich das Gleichgewicht. Als er auf dem Wasser aufschlug, stand er fast gerade, so daß kein einziges Pflänzlein aus dem vollen Korb rutschte.

Die Augen des kleinen Mannes hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er jetzt ganz deutlich die Umrisse des Korbes erkennen konnte. Um einen sicheren Stand zu haben, stieg der Mann die Stufen der Leiter hinab, bis ihm das Wasser bis zum Bauch reichte. An der obersten Sprosse hielt er sich mit einer Hand fest und angelte mit der anderen nach dem, was seine Rettung sein sollte. Er mußte sich ganz lang machen, damit er den Henkel mit seinen Fingern greifen konnte.

"Komm schon," flüsterte er. Der kleine Mann zog an dem Korb, aber dieser bewegte sich kaum.

"Was ist das?" fragte der Kleine.

Irgendetwas zog den Behälter in die andere Richtung. So ging es hin und her. Ein Stückchen zum kleinen Mann und ein Stückchen wieder von ihm weg. Sofort dachte der Kleine wieder an das Brunnenungeheuer und hätte fast den Korb wieder losgelassen. Doch nun wollte er um seine Rettung kämpfen.

"Laß los, Du Ungeheuer!" schrie er.

Von oben drangen wieder Rufe in den Brunnen, aber darauf konnte der Kleine jetzt nicht achten.

Was der kleine Mann nicht sehen konnte war, daß unter dem Korb ein etwa handgroßer, leuchtend blauer Fisch am Werke war. Dieser Fisch wohnte schon solange er denken konnte in diesem Brunnen und schwamm schon den ganzen Tag aufgeregt dicht unter der Wasseroberfläche hin und her. Noch nie hatte irgendein anderes Lebewesen ihn hier unten besucht, und nun saß da in seinem Revier ein zähneklapperndes Menschlein, das sich auch noch eine Leiter mitgebracht hatte, weil es anscheinend garnicht richtig schwimmen konnte. Was wollte dieses Geschöpf denn hier unten im Brunnenwasser? Wie lange wollte dieser kleine Mensch wohl noch hier unten bleiben. Oder wollte er ihm, dem Fisch, gar sein Heim streitig machen und sich hier unten für immer niederlassen?

Nachdem der blaue Fisch bereits eine ganze Weile mißtrauisch auf und ab geschwommen war, bemerkte er, wie etwas Großes in den Brunnen fiel. Im Laufe der Jahre hatte er ein Gefühl dafür entwickelt, wenn von oben herab der hölzerne Wassereimer in den Brunnen gelassen wurde, denn dann mußte er sich regelmäßig in Sicherheit bringen, damit er nicht mit dem Eimer die Reise nach oben - ins Ungewisse - machen mußte. Doch was fiel da diesmal von oben herab? Der Eimer war doch bereits mitsamt dem Seil, das sonst immer ganz straff am Griff befestigt war, auf den Grund des Brunnens gesunken.

Als der Korb auf der Wasseroberfläche aufschlug, und der Fisch sicher war, daß dieser an der Oberfläche blieb, wagte er sich näher heran. So ohne Weiteres wollte er dem kleinen Mann nicht gestatten, alles Mögliche hier hinab zu bringen. Der Fisch umkreiste einmal kurz den Korb. An einem Ende entdeckte er einen kurzen Stengel, der zwischen dem Geflecht des Korbes herausragte. Der Fisch nahm das Pflanzenende in sein Maul und zog daran. Warum sollte er dem kleinen Mann den Korb so kampflos überlassen? Nein, er wollte diesen lieber mit hinab auf den Grund ziehen.

Und so zog an der einen Seite des Korbes der kleine Mann, der um sein Leben kämpfte und an der anderen Seite der blaue Fisch, der sich gegen den Eindringling wehren wollte. Lange war nicht zu erkennen, wer den Wettstreit gewinnen würde. Allzuviel Kraft hatten beide nicht. Der Fisch hatte schließlich Pech. Der Stengel, an dem er zog, lockerte sich langsam. Stück für Stück wurde das Ende, das aus dem Korb herausragte, länger - bis der Kampf ganz plötzlich entschieden war. Der Fisch purzelte rückwärts durchs Wasser - mit einer wunderschön blühenden Blume im Maul, und der kleine Mann wurde von der Wucht des Korbes gegen die Brunnenwand geschleudert. Er hatte Mühe, auf der Leiter das Gleichgewicht wiederzuerlangen.

Der Fisch hatte zwar sein Ziel nicht erreicht, doch als er sah, was er in seinem Maul trug, war er überglücklich und machte sich gleich auf den Weg zu dem Platz am Boden des Brunnens, wo er seine wichtigsten Habseligkeiten sammelte. Eine blühende Blume hatte er sein Lebtag noch nicht gesehen. Und aus der Blüte entsprang ein liebliches Klingeln. Ganz nebenbei hatte der Fisch damit auch das Leben des kleinen Mannes gerettet. Denn die Blätter dieses Pflänzleins waren ja giftig und hätten den Kleinen unvermeidlich getötet.

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