Der kleine und der große Mann
Ein neues Märchen
- 9. von 12 Episoden -
von Manfred Franz (Texte)
und Beate Franz (Bilder)

So sehr der große Mann von oben und der nunmehr ebenfalls große Mann von unten auch ihre Arme zueinander streckten, sie waren noch viel zu weit voneinander entfernt. Es hatte keinen Sinn.

Die Nacht war jetzt schon halb vorbei. Das Schicksal hatte dem Mann im Brunnen übel mitgespielt. Der Tag war hart gewesen, und der Mann war verzweifelt und vollkommen erschöpft. So sehr seine Gedanken auch kreisten, er fand keinen vernünftigen Ausweg aus seiner Situation.

"Es hat alles keinen Zweck," hauchte er und hockte sich hin, wobei kaum noch sein Hose naß wurde. Er lehnte sich an die Brunnenwand und schlief vor Kummer ein. Umfallen konnte er jetzt nicht mehr, dazu hatte er nicht genug Platz im Brunnen.

"Was nun? Wir können doch nicht aufgeben!" stammelte der Riese. "Weiß denn niemand einen Rat?" Die meisten Dorfbewohner schauten betreten auf den Boden. Andere blickten den Großen stumm an, einige schüttelten den Kopf. Einer nach dem anderen schlich sich davon. Die Kinder waren schon früher in ihre Betten geschickt worden. Zum Schluß stand der große Mann ganz einsam und verlassen am Brunnen. Es war das erste Mal, daß die Dorfbewohner den Großen alleine gelassen hatten. Er fühlte sich schlecht. Wer konnte jetzt nur helfen. Da fiel ihm nur die alte Frau im Wald ein. Sie hatte schon einmal geholfen. Vielleicht wußte sie noch einen weiteren Rat.

Obwohl es stockfinster war, weil eine dicke Wolke vor dem runden Mond hing, und obwohl auch der Große sich schon sehr erschöpft von den Anstrengungen des Tages fühlte, rannte er wieder die Straße hinauf in die Richtung, die zu den Wäldern führte. Der erste Teil des Weges war noch nicht so schwer, aber sobald der Wald mit seinen ersten Bäumen begann, mußte der Mann seine Schritte zügeln, um sich nicht schon wieder den Kopf einzurennen. Je dichter der Wald wurde, je langsamer kam der Große voran. Schließlich tastete er nur noch vorsichtig mit Händen und Füßen um die Bäume herum. Einmal hatte er den Eindruck, daß er in der Ferne einen Lichtschimmer sah, der aber gleich darauf wieder hinter einem Baum verschwand. Erst einige Augenblicke später erschien der Schimmer wieder und plötzlich stand der Mann am Rande der Lichtung und erblickte das erleuchtete Fenster des Häuschens, in dem die alte Frau wohnte.

Diesmal wurde er nicht erwartet. Er mußte erst dreimal laut klopfen, ehe er die schlurfenden Schritte der Alten vernahm.

"Die Blätter haben nicht gereicht, der Kleine steckt immernoch im Brunnen. Ich weiß nicht, was ich noch machen kann." plapperte der Große sofort los, als der Schatten der Frau im Spalt der Tür erschien. "Ich will ihm doch helfen. Liebe Frau, hast Du einen Rat?"

"Mmh," machte die Alte. "Die Pflänzlein auf der Wiese wachsen erst wieder im nächsten Jahr. Solange können wir den Armen nicht da unten lassen," grübelte sie. "Wie groß ist er denn schon geworden?"

"Im dunklen Brunnenloch konnte ich nicht viel sehen, aber so groß wie ich wird er jetzt allemale sein," antwortete er und fügte noch schnell hinzu: "Aber viel größer ist er nicht."

"Hast Du Mut?"

"Natürlich habe ich Mut! Ich bin der Mutigste des ganzen Dorfes!" Der Mann richtete sich bei diesen Worten ganz groß auf.

"Und was ist, wenn einer größer und stärker ist als Du?" fragte die Alte weiter.

"So einen gibt es nicht. Der muß erst noch geboren werden."

"Ist der Mann im Brunnen Dein Freund?"

"Nun ja," zögerte der Große, "bisher hab' ich ihn immer sehr schlecht behandelt. Jetzt tut er mir leid. Ich würde gerne sein Freund werden und ihm sagen, daß ich nicht mehr so garstig zu ihm sein will. Doch wenn er stirbt, dann kann ich das nicht mehr. Ich will ihm helfen."

"Komme, was da wolle?" bohrte die Frau weiter.

"Komme, was da wolle!" erwiderte er mit voller Überzeugung.

"Dann weiß ich noch eine Möglichkeit. Es ist die Einzige, die noch bleibt. Du mußt durch die finstersten Teile des Waldes hindurch, und auf den hohen Berg hinauf. Ganz oben wächst jedes Jahr die schönste aller Pflanzen. Sie ist von der gleichen Art, wie die, die Du geerntet hast. Nur viel größer. Die Blüte dieser Pflanze ist immer die letzte, die sich dann mit lautem Glockenschlag öffnet. Das wird in einem halben Tag zur Mittagsstunde sein. Doch Du mußt Dich vorsehen! Dort oben wehen starke Winde. Es stürmt dort so sehr, daß auf dem letzten Stück keine Bäume mehr wachsen können. Und dann beginnt der schwierigste Teil."

"Daher kommt also der Glockenklang!" sagte der Mann überrascht. "Bisher konnte mir noch niemand sagen, was es mit dem Geläut auf sich hat. Aber sonst, ein bißchen Wind macht mir nichts aus. Ich bin schließlich groß und kräftig!"

"Aber das wird Dir nichts nützen. Denn wenn der Wind bläst, dann schrumpft jeder Mensch, der auf dem Berg nach oben klettert Stück für Stück. Wenn Du oben ankommst, bist Du vielleicht nur noch so groß, wie der kleine Mann, bevor er in den Brunnen gefallen ist." berichtete die Alte. "Willst Du immernoch?"

Diesmal zögerte der Große mit seiner Antwort, bevor er sagte: "Ja, ich will." Insgeheim hoffte er, daß es schon nicht so schlimm kommen würde.

"Na dann mach Dich schleunigst auf den Weg. Die Zeit bis zum Mittag ist schnell vorbei. Und noch eins: Ganz oben, wenn Du die Pflanze gebrochen hast, damit ihre Blätter nicht mehr giftig werden, kannst Du Dich ein wenig ausruhen, denn auf der Bergspitze hast Du Ruhe vor dem Sturm. Und die wirst Du nötig haben. Der Rückweg wird länger als der Hinweg."

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